Alternativen zu Tierversuchen in der medizinischen Forschung

Preisverleihung Alternativen für Tierversuche
(v.l.n.r.): Wissenschaftsstaatssekretär Wolfgang Förster, Preisträger Dr. Felix Maurer und Stefan Radermacher (UKS), Preisträgerin Dr. Nicole Schneider-Daum (HIPS) und Umweltstaatssekretär Sebastian Thul bei der Preisverleihung des Saarländischen Forschungspreises „Alternativen zu Tierversuchen“ (Foto: David Cuervo Müller)

Auszeichnungen erhielten Dr. rer. nat. Felix Maurer und seine Arbeitsgruppe aus dem Forschungslabor der Anästhesiologie sowie für Dr. Nicole Schneider-Daum vom Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS), Saarbrücken.

Bevor neue Verfahren oder neue Medikamente am Menschen eingesetzt werden dürfen, müssen umfangreiche Tests und Studien durchgeführt werden, um genaue Aussagen zu gewünschten Wirkungen, Dosierungen und Sicherheit bei der Anwendung treffen und gewährleisten zu können. Oftmals sind solche Forschungen, die dazu dienen, schwere Erkrankungen wie Krebs besser verstehen und damit besser behandeln zu können, nicht ohne Versuche an Tieren möglich.

Tierversuche unterliegen strengen gesetzlichen Regelungen. Ein zentrales ethisches Prinzip ist der Grundsatz des 3R-Konzepts: „Replace, Reduce, Refine“. Dies bedeutet, dass Tierversuche nur dann durchgeführt werden dürfen, wenn es keine alternativen Methoden gibt; dass die Anzahl der Tiere möglichst gering gehalten wird und die Versuche so durchgeführt werden, dass das Leiden der Tiere minimiert wird.

Forscherinnen und Forscher sind sich ihrer Verantwortung bewusst und suchen stetig nach Ersatzmethoden, um Tierversuche zu verringern. Neben Versuchen an totem bzw. gespendetem menschlichem Gewebe zu Forschungszwecken oder tierischen Schlachtabfällen aus der Fleischproduktion (ex-vivo), spielen neuerdings Zellkulturmodelle, also Gewebezüchtungen im Labor (in-vitro) bis hin zu so genannten menschlichen Organoiden eine immer größere Rolle. Auch Computersimulationen und Virtual Reality, Methoden der Bioinformatik und der Künstlichen Intelligenz (KI) eröffnen neue Möglichkeiten.


Vorgestellt und diskutiert wurden fünf konkrete Ersatz-Methoden im Rahmen des „Homburger Kolloquiums – Alternativen zu Tierversuchen“, welches das Ministerium für Umwelt, Klima, Mobilität, Agrar und Verbraucherschutz und die Universität des Saarlandes am 24. und 25. April 2024 in Homburg ausrichteten. (Weitere Informationen zum Kolloquium und der 3R-Plattform Saar:

Homburger Kolloquium 2024 – Tierschutz & Versuchstierkunde – 3R-Plattform Saar (3RPS) (3r-plattform-saar.de))

Eine neuartige ex-vivo-Modellplattform, das so genannte isolierte Ventilations- und Perfusions-Schweinelungen-Modell, entwickelt von Dr. rer. nat. Felix Maurer und seinem Team (Forschungslabor der Anästhesiologie/ UKS und Medizinische Fakultät) hat schließlich neben dem komplexen Zellkultur-Modell der menschlichen Lunge zur Entwicklung inhalativer Medikamente (Dr. Nicole Schneider-Daum, Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS), Saarbrücken) den Zuschlag erhalten.
Beide Preisträger teilen sich die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung – 4.000 Euro gingen nach Homburg an Dr. Maurer und sein Team, 6.000 Euro nach Saarbrücken ans Helmholtz-Institut.

Beide Projekte wurden von der renommierten Jury als besonders vielversprechend und zukunftsweisend eingeschätzt, sie setzten sich damit gegen drei weitere eingereichte Projekte durch. Die Aufteilung des Preisgeldes ergibt sich aus dem Fortschritt des Helmholtz-Projektes, das bereits internationale Aufmerksamkeit generieren konnte, während sich das Projekt aus Homburg erst am Anfang befindet, teilte die Jury mit.

 

Isoliertes Ventilations- und Perfusionsschweinelungen-Modell (VPM)

Die Dosierung von Medikamenten erfolgt üblicherweise basierend auf demographischen Daten wie Alter und Gewicht. Jedoch können verschiedene Faktoren wie Organfunktionsstörungen zu Über- oder Unterdosierungen führen. In solchen Fällen wird oft die Arzneimittelkonzentration im Blut gemessen, was jedoch zeitaufwendig und kostspielig ist. „Eine alternative, schnellere und nicht-invasive Methode ist die Messung in der Ausatemluft. Bisher konnten jedoch nur wenige Substanzen wie Propofol erfolgreich in der Atemluft nachgewiesen werden. Zudem fehlt bislang ein Vorhersagemodell, um festzustellen, ob ein bestimmtes Medikament im Atemgas nachweisbar ist“, erläutert Dr. Felix Maurer die Ausgangslage. „Die Überprüfung an Patientinnen und Patienten oder Probanden gestaltet sich schwierig, da je nach Messverfahren eine Vielzahl von Signalen detektierbar sind. Bei Tieren hingegen erleichtern kontrollierbare Laborbedingungen die Analyse der erhaltenen Signale.“

Um den Einsatz von Versuchstieren zu reduzieren, hat Dr. Maurer zusammen mit dem Doktoranden Stefan Radermacher, der sich in dem Projekt in herausragender Weise engagiert hat, ein tierversuchsfreies Modell entwickelt: das isolierte Ventilations- und Perfusionsschweinelungen-Modell (VPM). Das VPM simuliert die Lungenfunktion eines Schweins und ermöglicht die Messung von Medikamentenkonzentrationen in der Ausatemluft.

„Das System besteht aus einer Schweinelunge, die mit Schweineblut perfundiert wird, um physiologische Bedingungen zu simulieren. Die Schweinelungen stammen aus Schlachtungen für die Lebensmittelproduktion. Somit entfällt die Notwendigkeit, eigens Tiere für Versuchszwecke zu züchten und zu töten“, betont Dr. Maurer.

Beim Schweinelungen-Modell (VPM) können Medikamente ins Blut gegeben werden, um ihre Messbarkeit im Atemgas der Lunge zu überprüfen. Die Vorteile des VPM gegenüber in vivo und in vitro-Systemen sind vielfältig. Der Verzicht auf Versuchstiere ermöglicht höhere Dosierungen von Medikamenten. Zudem verbessern die genetische und physiologische Ähnlichkeit von Schwein und Mensch die Übertragbarkeit der Ergebnisse. Im Vergleich zu Zellkulturen erlaubt das ex vivo-Lungenmodell komplexere Untersuchungen, da es die natürliche Gewebestruktur und -interaktionen nachbildet.

In bisherigen Versuchen konnte die erfolgreiche kontinuierliche Überwachung von Propofol in der Ausatemluft des VPM als „proof of concept“ dienen. Zusätzlich konnten die Homburger Forscher zeigen, dass die isolierte Lunge vital ist und metabolische Prozesse in physiologischem Rahmen durchführen kann.

Zukünftige Forschungen werden sich auf die Untersuchung weiterer Medikamente und die Entwicklung eines pharmakometrischen Modells zur Vorhersage der Detektierbarkeit von Medikamenten in der Atemluft konzentrieren. Langfristig soll das VPM als Modellplattform für verschiedene Forschungsbereiche dienen und damit weitere Tierversuche einsparen. „Perspektivisch werden wir das System um eine Leber erweitern, um die leberabhängige Metabolisierung von Medikamenten zu untersuchen“, ergänzt Dr. Felix Maurer. „In der studentischen Lehre wird das Modell bereits verwendet, um praktische Fähigkeiten wie Beatmung, Bronchoskopie und Fremdkörperentfernung zu vermitteln, ohne auf konkrete Patientenfälle angewiesen zu sein.“

 

Anlässlich der Preisverleihung betonte der saarländische Umweltstaatssekretär Sebastian Thul: „Mehr Tierschutz ist unsere moralische Pflicht und seit Jahren erklärtes Ziel unseres Ministeriums. Mit dem Homburger Kolloquium bieten wir diesem wichtigen Thema ein wissenschaftliches Forum“, unterstreicht Thul. „Der Saarländische Forschungspreis verbessert die Bedingungen von Versuchstieren, indem er die Forschung zur Vermeidung und Verminderung von Tierversuchen sowie zur verbesserten Haltung und Verwendung dieser Tiere fördert. Auch in diesem Jahr konnten wir fünf tolle Konzepte kennenlernen.“

„Das Saarland ist Vorreiter in der Erprobung von neuen Methoden zur Vermeidung von Tierversuchen. Der Weg zu einer tierversuchsfreien Forschung geht nicht gegen die Wissenschaft, sondern nur mit der Wissenschaft“, betont Wissenschaftsstaatssekretär Wolfgang Förster. „Ich bin begeistert von den vielen innovativen Ideen, um die Notwendigkeit von Tierversuchen zur Gewinnung neuer Forschungserkenntnisse immer weiter zu reduzieren und so das Wohlergehen der Tiere zu schützen. Mit der heutigen Preisverleihung ehren wir jene, die seit vielen Jahren auf diesem Gebiet forschen und ihr Knowhow mit vielen Kolleginnen und Kollegen weltweit teilen.“

Der mit 10.000 Euro dotierte Saarländische Forschungspreis „Alternativen zu Tierversuchen“ wird seit 2022 alle zwei Jahre für vielversprechende und zukunftsweisende wissenschaftliche Ansätze oder herausragende wissenschaftliche Arbeiten zur Vermeidung oder Verminderung von Tierversuchen vergeben. Er kann auf bis zu drei Projekte aufgeteilt werden. Preiswürdig sind Beiträge, die neue methodische Ansätze liefern oder bestehende Ansätze aufgreifen und nach dem 3R-Prinzip (Replace/Ersetzen, Reduce/Verringern, Refine/Verbessern), welches von Russel und Burch 1959 erstmals formuliert und in der Tierversuchsrichtlinie 2010/63/EU verankert wurde, fortentwickeln. Bewerben können sich Personen oder Personengruppen, die im Saarland wissenschaftlich tätig sind sowie im Saarland ansässige wissenschaftlich tätige Firmen und Einrichtungen.

 

Weitere Informationen: Homburger Kolloquium 2024 – Tierschutz & Versuchstierkunde – 3R-Plattform Saar (3RPS) (3r-plattform-saar.de)